Messias Skript: Episode 4
Wer ist diese archaische Figur, die am Scheideweg der Geschichte steht? Ist er ein außerordentlicher Lehrer? Ein Revolutionär? Ein Prophet? Oder ist er tatsächlich der göttliche Sohn eines göttlichen Vaters, im wahrsten Sinne des Wortes, der Retter der Welt? In der Debatte, diese Frage zu beantworten, verwerfen viele Gelehrten das Göttliche und unterscheiden zwischen dem Jesus der Historie, einem sterblichen Mann, und dem Jesus unseres Glaubens, dem Sohn Gottes. Heute bemühen sich HLT-Gelehrte darum, Historie und Glauben, Wissenschaft und moderne Erkenntnisse zu vereinen, um zu einem umfassenderen Verständnis zu gelangen, wer Jesus wirklich war und ist.
Auf den Seiten des Alten Testaments taucht die Formulierung “So spricht der Herr” über 400 Mal auf, wenn Propheten ihren Gott zitieren. Moses spricht diese Worte zum Pharao. Jeremia spricht diese Worte zu ganz Jerusalem. Doch im Neuen Testament ist diese Formulierung nirgendwo zu finden. Stattdessen verkündet der Sohn des Zimmermanns: “Wahrlich, wahrlich, ich sage euch.” Von der Bergpredigt bis zum Wunder am Grab des Lazarus spricht der Gott Israels für sich selbst.
ANDREW SKINNER: Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind Gelehrte, die das Neue Testament studieren, wie sie es nennen, auf der Suche nach dem historischen Jesus, das heißt danach, was Jesus wirklich sagte und wirklich tat. Ihre Forschungen führten sie zur Geschichte und Theologie, zur Archäologie und Philologie, der Wissenschaft altertümlicher Sprachen. Generell kann man sagen, dass diese Gelehrten dazu neigen, alles abzulehnen, was sich auf das Übernatürliche und auf göttliche Autorität bezieht oder uns spezifische Anleitungen gibt, wie wir unser Leben führen sollten.
JOHN S. TANNER: Dies ist ein fantastischer Aussichtspunkt über den nördlichen Teil des Sees von Galiläa, wo sich so viele Ereignisse im Leben Jesu abgespielt haben. Ich glaube, dass ich als Erstes versuchen werde, mich zu orientieren.
S. KENT BROWN: Man kommt um den See von Galiläa herum zum Nordostufer, an dem Betsaida liegt.
GAYE STRATHEARN: Dies ist die Heimatstadt von Petrus, Andreas und Philippus. Hier wurden sie geboren.
JOHN S. TANNER: Das hier ist gewissermaßen ein Ausläufer des Sees, oder?
S. KENT BROWN: Ja.
GAYE STRATHEARN: Ja, die moderne archäologische Ausgrabung von Betsaida liegt ein bisschen mehr landeinwärts. Zu Zeiten Jesu reichte der See viel weiter hoch.
S. KENT BROWN: Der Fluss mündet in den See von Galiläa und teilt die Gebiete. Auf der Ostseite hatte Herodes Philippus das Sagen, einer der überlebenden Söhne von Herodes, dem Großen. Wohingegen die Westseite das Territorium von Herodes Antipas war, der über Nazaret und ein paar andere Orte hier in der Gegend regierte. Unter seiner Herrschaft wuchs Jesus auf.
GAYE STRATHEARN: Das ist derselbe Herodes, der Johannes den Täufer hinrichten ließ, oder?
S. KENT BROWN: Ja, das stimmt. Wenn man den Jordan überquert, wo er in den See mündet, kommt man nach Kafarnaum. Das ist die erste Stadt.
GAYE STRATHEARN: Kafarnaum war ein sehr, sehr wichtiger Ort für sein Wirken in Galiläa. Kafarnaum war der Hauptsitz von Jesus, während er hier wirkte. Obwohl er durch ganz Galiläa reiste, kam er immer nach Kafarnaum zurück. Das war also sein Zuhause.
JOHN S. TANNER: Er wuchs also hier drüben in Nazaret auf, aber Kafarnaum war wirklich seine adoptierte Heimatstadt. Was kommt nach Kafarnaum? Kommt man da zum Berg der Seligpreisungen?
S. KENT BROWN: Richtig. Da erhebt sich ein Berg, der der traditionelle Ort der Bergpredigt ist, nicht wahr?
GAYE STRATHEARN: Ja, stimmt genau. Es ist also nur dieser kleine Hügel direkt vor uns. Und das ist der traditionelle Schauplatz, an dem Jesus die Bergpredigt hielt.
JOHN S. TANNER: Heute steht dort eine kleine Kirche, in Gedenken an die Bergpredigt.
JOHN W. WELCH: Einer der Hauptgründe, warum die Leute Schwierigkeiten haben, die Bergpredigt in einem historischen Zusammenhang zu sehen, ist der Versuch herauszufinden, wo sie herkam — wie früh war es, handelt es sich wirklich um eine Rede, die Jesus in schlüssiger, zusammenhängender Gesamtheit gab, oder ist es eine willkürliche Ansammlung von Aussagen, die eventuell viel später von Matthäus zusammengestellt wurde? Unter den Gelehrten, die sich mit dem Neuen Testament befassen, gibt es keine allgemeine Übereinstimmung über die Datierung der Bergpredigt. Manche sehen sie relativ spät. Aber andere sehen sie zumindest als Text, der vor Matthäus entstand, einen Text, der von Matthäus gefunden, benutzt und in sein Evangelium integriert wurde. Was auch Sinn ergibt, denn etwa ein Fünftel der Worte, die in der Bergpredigt benutzt werden, werden von Matthäus nie wieder verwendet. Hierbei handelt es sich nicht um die Worte von Matthäus. Sie sind nicht Teil seines Vokabulars. Matthäus schließt in seine Bergpredigt ein paar Teile mit ein, die wirklich sehr verblüffend sind. Er nimmt sich auch nicht die Zeit, zu erklären, was sie bedeuten.
Die Redewendung, zum Beispiel, man soll seine Perlen nicht vor die Säue werfen oder unsere heiligen Dinge nicht den Hunden geben, scheint eine sehr wichtige Vorraussetzung der Verschwiegenheit oder eine sakrale Betrachtung der Dinge zu sein, die gelehrt werden, aber Matthäus geht nie näher darauf ein, was er sicherlich getan hätte, wenn er den Text als Einleitung zu den Lehren und zum Wirken Jesu und zu seinem Evangelium geschrieben hätte.
GAYE STRATHEARN: Es fällt auf, dass die Predigt bei Lukas völlig anders als die Predigt bei Matthäus ist. Gelehrte würden wohl generell behaupten, dass die Predigt bei Lukas, die viel kürzer ist als bei Matthäus, wahrscheinlich eine historisch genauere Wiedergabe der Predigt ist, die Jesus tatsächlich gehalten hat. Jemand, der diese Einstellung vertritt, stellt sich bestimmt die Frage: “Was ist hier bei Matthäus geschehen?” Die Predigt ist viel länger, sehr viel detaillierter und in vielerlei Hinsicht ausgeprägter als bei Lukas. Wie gelangten wir von der Version des Lukas zu der von Matthäus? Folglich muss die Version des Matthäus erfunden oder von späteren Christen zusammengestellt worden sein, um ihre Lehren zu rechtfertigen, oder etwas Ähnliches, das heißt, dass Jesus die Predigt in der Erzählung Matthäus nie gehalten hat. Nun, für einen Heiligen der Letzten Tage ist das völlig unhaltbar, nicht wahr? Denn wenn wir das3. Buch Nephi öffnen, kommt die Predigt Jesu der Version des Matthäus viel näher als der Version von Lukas, und hier wissen wir, dass es sich um eine einzige Predigt handelt und nicht um eine Zusammenstellung vieler Zitate.
JOHN S. TANNER: Die Botschaft und die Wunder Jesu hatten profunde Auswirkungen auf die Weltgeschichte. Aber hat er die Dinge, die die Autoren der Evangelien berichten, auch wirklich gesagt und getan? Kann man ihren Worten trauen? Wie Sie wissen, ist die moderne Wissenschaft skeptisch und bestreitet viele dieser Dinge. Aber wenn wir das Buch Mormon zu Rate ziehen, haben wir guten Grund, modernem Skeptizismus skeptisch gegenüberzustehen, denn das Buch Mormon bestätigt die historische Exaktheit der meisten Details der Darstellung Jesu im Neuen Testament.
GAYE STRATHEARN: Nun ja, das stimmt genau. Im Buch Mormon heilt Jesus die Kranken und gibt den Blinden Augenlicht zurück. Er ordiniert Apostel und etabliert eine Kirche. Und was eventuell am wichtigsten ist, das physisch auferstandene und verherrlichte Wesen erscheint den Einwohnern der Neuen Welt, genau wie es seinen Jüngern in der Alten Welt erschien.
JOHN S. TANNER: Wenn man das, was Jesus im Neuen Testament sagt und tut, mit dem vergleicht, was er im Buch Mormon sagt und tut, ist der Beleg einfach überwältigend, dass er tatsächlich der Messias ist, genau derjenige, als den ihn beide Aufzeichnungen porträtieren. Und sie bestärken sich darin gegenseitig.
GAYE STRATHEARN: Ein guter Weg, dies darzulegen, ist, die Lehren Jesu zu nehmen und beide Texte genau zu studieren. Die Bergpredigt eignet sich ausgezeichnet als Fallstudie für so einen Vergleich.
JOHN S. TANNER: In der Tat, das tut sie.
GAYE STRATHEARN: Oft wurden die Ähnlichkeiten der Reden bei Matthäus und dem 3. Buch Nephi als Beweis dafür betrachtet, dass das Buch Mormon nichts zu bieten habe und nur eine Kopie der King James-Bibel sei. Vor ein paar Jahren kam ein ausgezeichneter Wissenschaftler des Neuen Testaments namens Krister Stendahl hierher zur BYU, um die Bergpredigt im Matthäusevangelium zu untersuchen und sie mit der Predigt im Tempel zu vergleichen. Ich stimme nicht allen Schlussfolgerungen zu, zu denen er gelangte, aber eine Sache, die er sagte, war einfach essentiell, selbst für unser Verständnis als Heilige der Letzten Tage, nämlich dass Jesus bei der Bergpredigt im Matthäusevangelium als Rabbi lehrt. Er interpretiert das Gesetz Mose neu und wendet es seiner Zeit gemäß an. Und er sagt, dass er sich in dieser Hinsicht von vielen anderen Rabbis des 1. Jahrhunderts gar nicht so sehr unterscheidet. Aber, so sagt er, wenn wir zu der Predigt im Tempel kommen, im 3. Buch Nephi, spricht Jesus als Messias. Nun, das ist aus der Perspektive eines Nicht-Mormonen ein sehr signifikanter Unterschied.
Er gelangte zu dieser Schlussfolgerung, indem er beide Texte sehr genau las und studierte. Und nicht nur auf Ähnlichkeiten, sondern auch auf Unterschiede achtete. Obwohl die Unterschiede recht gering sind und leicht übersehen werden könnten, besonders wenn man schnell liest, stechen sie bei genauerer Betrachtung der Texte hervor und sind auch bedeutsam.
Manche der Stellen, an denen er bedeutende Unterschiede fand — Letztendlich läuft alles auf diese eine Formulierung hinaus: Kommt zu mir.. Er sagt in den Versen 18 bis 20 — Achten Sie darauf, wie oft die Formulierung Kommt zu mir. auftaucht. Denn wahrlich ich sage euch: Nicht ein Jota und nicht ein Pünktchen vom Gesetz ist vergangen, sondern in mir ist es alles erfüllt. Und siehe, ich habe euch das Gesetz und die Gebote meines Vaters gegeben, damit ihr an mich glaubt und damit ihr von euren Sünden umkehrt und mit reuigem Herzen und zerknirschtem Geist zu mir kommt. Sehet, ihr habt die Gebote vor euch, und das Gesetz ist erfüllt. Darum kommt zu mir und lasst euch erretten.” (3. Nephi 12:18–20).
Nun geht es weiter mit besagter Formulierung. Wenn wir etwas weiter nach unten springen, wo es bei Matthäus heißt: “Wenn dir einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.” Hier ist der Altar in Vers 23 ersetzt worden. “Darum, wenn du zu mir kommst oder den Wunsch hast, zu mir zu kommen, und es fällt dir dabei ein, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so gehe deinen Weg zu deinem Bruder und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, und dann komme mit voller Herzensabsicht zu mir, und ich werde dich empfangen.” (3. Nephi 12:23–24).
Der Altar als Zentrum der Erlösung wurde also durch Jesus ersetzt. Es besteht ein Riesenunterschied zwischen dem, was wir bei Matthäus und im 3. Buch Nephi finden.
Und vielleicht die letzte Stelle, die wirklich wichtig ist, lautet bei Matthäus: “Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.” (Matthäus 5:48) Wohingegen es in der Erzählung im 3. Buch Nephi heißt: “Darum möchte ich, dass ihr vollkommen seiet, so wie ich oder euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist.” (3. Nephi 12:48) Jesus stellt sich nun selbst mit Perfektion gleich, und zwar auf eine Weise, wie er es bei Matthäus nicht tun konnte, weil er seine Mission noch nicht erfüllt hatte. Er hatte das Sühnopfer und die Auferstehung noch nicht vollbracht, wie er es im 3. Buch Nephi getan hatte. Im 3. Buch Nephi ist es also ein verherrlichtes Wesen, was sich dann auch in der Predigt widerspiegelt. In der Erzählung des Matthäus wird das nicht wiedergegeben. Ich finde also, dass es überaus bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Texten gibt. Es ist also nicht nur eine direkte Kopie der Matthäus-Version.
JUAN HENDERSON: Als der Heiland seine Predigt an die alten Nephiten beendet hatte, wie es ihm der Vater aufgetragen hatte, wandte er sich ihnen zu und sagte: “Bitte.” Er sagt: “Ich sehe, dass ihr wollt, dass ich das Wunder vollbringe, das ich in Jerusalem vollbracht habe.” Er fragte sie, ob ihr Glaube stark genug war, um dies zu tun. Also forderte er sie auf, ihre Kranken und ihre Lahmen und so weiter zu ihm zu bringen. In den Schriften heißt es, dass sie alle Arten von Krankheiten hatten und Jesus sie alle heilte. Das ist ein beeindruckendes Zeugnis, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, dass die Erzählungen in der Bibel über die Heiltaten und anderen Dinge, die Christus unter seinen Anhängern vollbrachte, im Buch Mormon praktisch zum zweiten Mal bezeugt werden, dass er diese Worte also wirklich gesprochen und die Heiltaten, die die Bibel bezeugt, auch wirklich vollbracht hat.
S. KENT BROWN: Ein prominenter Bibelhistoriker stellte die Frage: “Was ist die Bedeutung der Bergpredigt?” Dies ist eine Frage, die das Christentum auch weiterhin beschäftigt. Und im Lauf der Jahrhunderte haben Theologen eine große Auswahl an Antworten geboten. Der Hauptgrund, warum die Bergpredigt für viele ein verschlüsselter Text bleibt, ist die Schwierigkeit auszumachen, was all dies zusammenhält. Liegt der Predigt ein einziges, vereinendes Thema oder eine Logik zu Grunde, oder ist es eine kunterbunte Ansammlung unzusammenhängender Aussagen?
GAYE STRATHEARN: Ja, ich glaube, dass die Predigt im Tempel im Buch Mormon zu dieser Frage Anhaltspunkte für eine bemerkenswerte Antwort liefert.
S. KENT BROWN: Dem stimme ich zu, Gaye. Die Predigt im Tempel beweist, dass es sich bei beiden Predigten tatsächlich um Tempeltexte handelt, die Anspielungen auf und Verbindungen zu den heiligsten Lehren und belangvollsten Feierlichkeiten von Gottesdiensten der antiken Israeliten beinhalten.
ANDREW SKINNER: Fast alles in der Bergpredigt kann im Kontext des Tempels betrachtet werden. Dies gilt ganz besonders für das Vaterunser, das Teil der Bergpredigt ist. Jesus betont seinen Jüngern gegenüber noch einmal, wie sie beten können und sollten, und geht dabei auch auf den Inhalt der Gebete ein, welche Dinge unsere innigsten Ansprachen an unseren Vater im Himmel beinhalten sollten. Er betont den Jüngern gegenüber noch einmal, dass sie einen himmlischen Vater haben. “Unser Vater im Himmel”, was ein wichtiges, mit dem Tempel verbundenes Konzept ist. Schließlich bemühen wir uns, durch den Tempel in die Gegenwart Gottes zu gelangen.
Also wird uns noch einmal deutlich gemacht, dass Jesus den Jüngern ein spezifisches Verständnis der Dinge, die im Tempel stattfinden, vermitteln wollte, und somit folglich auch, auf welche Weise sie ihr Leben führen sollten.